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Heimat auf Zeit

Der Krieg bleibt allgegenwärtig bei Schachtar Donezks Champions-League-Heimspiel in Hamburg. Die Spieler geben ihr Bestes, damit die Ukraine einen europäischen Fußball-Frühling bekommt.

Patrick van Leeuwen sagt nicht viel dazu, was ihn und seine Mannschaft an diesem Abend aus der Ukraine in Deutschlands Norden geweht hat. Der 54 Jahre alte Niederländer antwortet pflichtschuldig, weil es das Protokoll eines Champions-League-Spiels vorsieht: „Unser einziger Weg, derzeit zu helfen, ist doch, die Welt darauf aufmerksam zu machen, was in der Ukraine passiert, indem wir unseren Spielern die Möglichkeit geben, an internationalen Spielen teilzunehmen. Wir haben also zwei Ziele – Fußball zu spielen und Informationen darüber zu teilen, was in der Ukraine geschieht.“

Am Dienstagabend schaut van Leeuwen seiner Mannschaft vergleichsweise reglos zu, wie sie 1:3 gegen den FC Porto verliert. Später sagt er typische Trainersätze. Es ist eine laue Nacht, in der mehr als 47.000 Menschen im Volksparkstadion sitzen und zusehen, wie Schachtar Donezk in der Champions-League-Gruppe H gegen die Portugiesen spielt.

Als sich van Leeuwens Profis auf ihre Ehrenrunde machen, werden blau-gelbe Fahnen geschwenkt. Später sieht man rund um die Arena viele Fahrzeuge mit ukrainischem Kennzeichen. „Das Stadion war voll. Es war also eine gute Entscheidung, nach Hamburg zu kommen“, sagt Patrick van Leeuwen, seit Juli Chefcoach. Etwa 40.000 Ukrainerinnen und Ukrainer leben derzeit hier.

Seit 2014 nicht mehr zu Hause gespielt

Noch zweimal wird Schachtar in Hamburg eine Heimat auf Zeit finden, mit dem Bus über die Grenze nach Polen fahren, aus Rzeszów einfliegen, weil der Luftraum über der Ukraine gesperrt ist, in Norderstedt trainieren, im feinen Hotel Treudelberg schlafen, dann im Volksparkstadion erst gegen den FC Barcelona am 7. November antreten und zum Abschluss Royal Antwerpen erwarten (28. November). Zuhause in der Donbass-Arena hat Schachtar seit 2014 nicht gespielt.

Die Erzählungen, wie die ewigen Heimspiele in der Fremde sind, haben nichts Effekt heischendes. Van Leeuwen sagt: „Jede unserer Reisen, ob Trainingscamp, Freundschaftsspiel oder nun Champions League, verlangt, dass wir die Grenze übertreten. Dabei geht es ja nicht nur um das Reisen. Wir müssen warten, durch die Passkontrolle, dann das Boarding. Bezogen auf die Reisen nach Hamburg heißt das, wir sind neun Stunden unterwegs, nicht zwei, wie normalerweise.“

Die Begleitumstände bleiben ungewöhnlich und für alle Beteiligten allgegenwärtig: Am Dienstag vor einer Woche kam der zehn Jahre ältere Bruder des Torwarts Dmytro Riznyk im russischen Angriffskrieg ums Leben. Riznyk, 24, steht am Dienstagabend in der Startelf. „Er ist mit dem Team angereist, und das bedeutet, dass er okay ist und spielen kann“, sagt Patrick van Leeuwen.

Einlaufkinder sind junge Geflüchtete

Andere Sportarten wie Handball (Saporischschja in Düsseldorf) oder Volleyball (U-21-Auswahl in Steinbrunn) haben die Exil-Auftritte ukrainischer Teams in den Rang vorläufiger Normalität befördert. So ist Schachtar gegen Porto eben auch ein weitgehend herkömmliches Fußballspiel. Eines, bei dem die Einlaufkinder junge Geflüchtete sind. Eines, bei dem ein „Peace“-Banner vor dem Anpfiff auf dem Boden klebt, eines, bei dem Schachtars Kapitän Taras Stepanenko um 20.58 Uhr via Videobotschaft sagt: „Wir wissen, wie sehr die Deutschen der Ukraine und den ukrainischen Menschen helfen. Wir spüren jeden Tag ihre Unterstützung.“

In den 94 Minuten bejubeln die überraschend vielen Fans in Blau und Weiß die feine Ballzirkulation ihres Teams (das Portugiesen-Viertel mit seinen Restaurants im Schatten des Michel muss an diesem Abend geschlossen sein). Die Mehrzahl der Zusehenden mit Spieltagsschal hält zu Donezk und ruft: „Schachtar! Schachtar!“, wenn ein Pass ankommt, eine Grätsche gelingt. Sogar die Welle der Begeisterung schwappt durch die Arena, und man ertappt sich bei dem Gedanken, dass sie 1999 doch für genau so etwas errichtet wurde – Champions League. Auf den Rängen sitzen die aktuellen HSV-Zweitliga-Profis samt Trainer Tim Walter, und in der 75. Minute, als das Spiel längst eingeschlafen ist, hallt es von der Nordtribüne: „Ha-es-vau! Ha-es-vau!“

Bevor es für Schachtar am Samstag mit dem Auswärtsspiel in Lemberg (Lwiw) gegen Ruch weitergeht, schweifen die Gedanken zum Fortgang im Wettbewerb: „Wir geben unser Bestes, damit die Ukraine einen europäischen Frühling bekommt“, sagt Kapitän Stepanenko und meint das Überwintern im Wettbewerb. Sein Coach kennt das Land aus Vorkriegszeiten; er verantwortete zwischen 2006 und 2013 den Schachtar-Nachwuchs und sagt: „Als ich zurückkam, war ich Trainer eines ganz anderen Klubs, denn die Lage war komplett anders. Nun versuchen wir alles, den Fans eine normale ukrainische Liga zu geben.“ Damit wäre wohl schon ziemlich viel erreicht.

Quelle : faz

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