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Neues Leben in Alten Mauern: Zeichen Der Zeit Beim Drb

Die 30-Jahr-Feier des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums (drb) in St. Petersburg Ende Oktober fiel in eine Zeit, die von den internationalen Projekten des Hauses kaum etwas übriggelassen hat. Auch öffentliche Veranstaltungen sind selten geworden. Doch den Kopf in den Sand steckt drb-Leiterin Arina Nemkowa (54) deshalb nicht. Hier erzählt sie, wie sich die Akzente verschoben haben, was ihr Hoffnung und was sie stolz macht.

Mehr als ein Sprungbrett

Die Besucher unseres Zentrums sind nur zu einem kleinen Teil waschechte Petersburger. Die meisten sind aus Kasachstan, aus Sibirien, dem Wolgagebiet, anderen russischen Regionen oder GUS-Ländern zugewandert. Und mir scheint, dass sie im Unterschied zu denen, die vor 10 oder 15 Jahren gekommen sind, unsere Stadt nicht mehr als Zwischenstation betrachten, wie das früher oft der Fall war. Es ist ja kein Geheimnis, dass unter anderem viele junge Leute aus den Reihen der Russlanddeutschen hier ein Studium aufgenommen und manchmal nicht mal beendet haben, bevor sie nach Deutschland weitergezogen sind. Das hat sich geändert. So wie ich das sehe, ist St. Petersburg für die meisten heute kein Sprungbrett mehr, die wollen

Nicht wegen des Diploms

Ins drb kommt man heute nicht mehr vordergründig wegen der Sprache, was mich sehr freut. Früher hatten wir jede Menge kostenlose Deutschkurse im Angebot. Und auch heute kann man bei uns Deutsch lernen. Doch die meisten tun das nicht, um einen Abschluss zu erlangen, sondern weil Sprache verbindet, weil sie wichtig ist für das Zusammengehörigkeitsgefühl.

„Eine Petersburgerin“

Die Geschichte des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums (drb) in St. Petersburg begann mit einer Weihnachtsfeier im Jahr 1993. Arina Nemkowa stieß zwei Jahre später dazu, fast ihr gesamtes Berufsleben ist mit dem drb verbunden. Die Germanistin hat deutsche Wurzeln, doch als Deutsche sieht sie sich nicht. „Ich habe von meinen deutschen Vorfahren erst vor zehn Jahren überhaupt erfahren. In meiner Familie wurde da­rüber nicht gesprochen, das Thema war tabu. Deshalb bin ich auch nicht in deutscher Tradition erzogen und aufgewachsen.“ Das mit der Nationalität will sie aber ohnehin nicht zu hoch hängen. „Für mich ist viel wichtiger, was ich mache, dass ich hier eine Lebensaufgabe habe, anderen helfen kann. Und ansonsten bin ich eine Petersburgerin, das ist völlig ausreichend.“

Frischer Wind durch junge Leute

In unseren Räumlichkeiten in einem Altbauviertel in der Nähe vom Newski-Prospekt ist heute viel mehr russlanddeutsches Leben als noch vor fünf Jahren, als die internationale Agenda alles überstrahlt hat. Wir erleben einen Zustrom neuer Leute, junger Familien mit kleinen Kindern. Und diese Community passt gut in unsere Zeit, in der es so wichtig ist, unter seinesgleichen zu sein und sich über die Fragen und Probleme auszutauschen, die einem selbst wichtig sind.

Bei den Familien handelt es sich meist um Mischehen. Und trotzdem trifft man sich im Deutsch-Russischen Begegnungszentrum. Das bedeutet, dass das Spektrum von Interessen und Aktivitäten weit über klassische ethnokulturelle Themen hinausreicht. Für die jungen Russlanddeutschen spielt deutsche Identität zweifellos eine wichtige Rolle, sie geben sich große Mühe, mehr über ihre Familiengeschichte zu erfahren. Und sie wollen, dass ihre Kinder die Sprache der Großmütter und Großväter sprechen. Aber bei den Treffen geht es deshalb nun nicht ständig um das Schicksal der deutschen Minderheit in Russland, sondern auch mal um Umwelt, um Lebensqualität und überhaupt um alles, was für die Community eben interessant ist. Die haben viel Lust, etwas gemeinsam zu unternehmen oder sich auch altbekannten russlanddeutschen Themen auf ihre Art zu nähern.

Vielleicht ist ein bisschen Wunschdenken von meiner Seite dabei, aber ich glaube, dass solchen Communitys die Zukunft gehört. Ich sehe meine Aufgabe darin, sie und ihre Pläne allseits zu unterstützen, auch wenn diese Pläne total ausgefallen sein können. Darauf bin ich gefasst.

Humor auf moderne Art

Traditionelle Formen deutschen Humors wie zum Beispiel Schwänke sind toll. Aber gerade Jüngere können damit häufig nicht viel anfangen, für sie ist das etwas Künstlich-Exotisches. Memes dagegen sind für sie Teil der Alltagskultur. Und wenn sie in dieser Weise russlanddeutsche Themen mit Humor neu aufbereiten, warum denn nicht? Ich finde das sehr sympathisch.

Eine ganz besondere Schule

Wir haben vor zwei Jahren eine Privatschule eröffnet, die May-Schule. Sie knüpft an das Erbe der Schule, die der St. Petersburger Pädagoge Karl Johann May 1856 gründete und die bis 1918 bestand. Vor ihrer Gründung hatte es in der Stadt elf deutsche Kirchenschulen gegeben, wenn ich mich nicht irre. Aber die Chefs der deutschen Familienbetriebe waren unzufrieden, denn wenn die Jugendlichen nach dem Schulabschluss zu ihnen kamen, waren sie schlecht vorbereitet. Das ist also eine altbekannte Klage.

May baute eine nicht-kirchliche Schule auf, aus der später viele namhafte Persönlichkeiten hervorgegangen sind, und machte einen Satz, den lange vor ihm Johann Amos Comenius geprägt hatte, zur obersten Maxime: Erst lieben, dann lehren. Das ist auch im 21. Jahrhundert nach wie vor aktuell und davon lassen wir uns leiten.

Bei der Eröffnung unserer Schule hatten wir neun Schüler, ein Jahr später waren es schon einhundert. Was ist das Besondere an ihr? Bei uns wird komplett auf Noten verzichtet. Die gibt es nur in den Prüfungen, die bisher an einer staatlichen Schule abgelegt werden müssen. Um sie selbst durchführen zu dürfen, fehlt uns noch ein eigenes Schulgebäude. Aber das ist nur eine Frage der Zeit.

Was uns vor allem auszeichnet, ist die Betreuung der Kinder durch Tutoren. Das sind junge Erwachsene mit Hochschulabschluss, die den Schülern dabei helfen, sich nach ihren individuellen Anlagen und Interessen zu entwickeln, auch Fehler zu akzeptieren, weil die zum Leben dazugehören. Das Format haben wir nicht selbst erfunden, Mentoren gab es schon am historischen Vorbild. Aber bei uns hat jedes Kind seinen Tutor, seine Vertrauensperson.

Ich habe in den letzten zwei Jahren weit über 500 Bewerbungsgespräche geführt. Daraus ist ein Lehrerkollegium von 40 Frauen und Männern entstanden, von denen die meisten zwischen 30 und 35 Jahren alt sind und verstehen, was das heißt: Erst lieben, dann lehren. Sie sind bereit und in der Lage, die Kinder auch ohne Rotstift und Zensuren zu unterrichten.

Deutsch ist eines der Schulfächer. Fast alle lernen Deutsch als zweite Fremdsprache, für einige ist es die erste. Ein nennenswerter Teil der Schüler kommt aus russlanddeutschen Familien. Auch etwa 30 Prozent der Lehrkräfte sind Russlanddeutsche. Bei rund 40 Prozent unserer Kinder handelt es sich um Urenkel derer, die einst die May-Schule aus Zarenzeiten besucht haben.

Heute sind unsere Kinder für drei Tage in die Region Nowgorod gefahren, aufs Dorf Salutschje bei Staraja Russa. Sie nehmen dort zusammen mit Schülern aus anderen Schulen an einem Projekt unter dem Titel „Schlacht der Experimente“ teil, das sich unser Physiklehrer ausgedacht hat. Dass es auf dem Dorf stattfindet, hat noch eine soziale Komponente, denn viele Stadtkinder haben ja nur eine vage Vorstellung davon, wie es auf dem Land eigentlich zugeht. Dort führen sie einander Experimente vor, die sie teils auch selbst entwickelt haben, aus ganz verschiedenen Gebieten. Ein tolles Projekt, von dem ich hoffe, dass es zu einer landesweiten Initiative wird.

Die May-Schule wird mit der Zeit ein Dach bilden für unsere Arbeit in allen möglichen Richtungen. Unsere ethnokulturellen Klubs haben dort schon heute ein Zuhause gefunden. Ich bin froh und stolz, dass wir uns 2021 auf dieses Risiko eingelassen haben. Denn das war tatsächlich riskant. In jenem Jahr haben in St. Petersburg so viele Privatschulen eröffnet wie noch nie. Heute gibt es um die 80 in der Stadt.

Diaspora? Das trifft es nicht

Die Deutschen gehören zu St. Petersburg wie die Newa und der Winterpalast. Praktisch seit der Stadtgründung Anfang des 18. Jahrhunderts haben sie auf den verschiedensten Gebieten gewirkt, ob nun in der Wirtschaft, der Bildung, Medizin, Kultur oder beim Militär. Glaubt man den letzten Volkzählungen, dann leben heute einige Tausend ethnische Deutsche in St. Petersburg.

Wie zuverlässig diese Angaben sind, ist allerdings fraglich. „Die Deutschen, die zu uns ins Zentrum kommen, bezeichnen sich zu solchen Anlässen meist als Russen“, sagt Arina Nemkowa. „Und mich zum Beispiel hat bei allen Volkszählungen überhaupt noch niemand befragt.“

Bezeichnend auf alle Fälle, dass die deutsche Minderheit so verwurzelt in der Stadt ist, dass sie sich nie als „Diaspora“ begriffen hat und auch nicht so wahrgenommen wurde. Nemkowa führt aber noch einen weiteren Grund dafür an. „Die Armenier sprechen untereinander Armenisch, die Litauer Litauisch – und die Deutschen Russisch. Das ist nun mal so.“

Quelle : Moskauer Deutsche Zeitung

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