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Schüsse Aus Dem Nichts: Putins Armee Im Fadenkreuz Der Scharfschützen

Russland rollt wieder auf Awdiijwka zu, und ukrainische Scharfschützen zielen gezielt auf Offiziere. Hinter jeder Hecke lassen sie den Tod lauern.

Awdiijwka – Am besten sei, die Schießerei jemand anderem zu überlassen und ungesehen zu bleiben. Das haben kürzlich drei Scharfschützen der Ukraine in einem Interview gegenüber der Kiew Post geäußert. „Ich würde sagen, dass wir alle zehn Missionen, die wir unternehmen, vielleicht tatsächlich einmal einen Schuss abgeben“, sagte Volodymyr Harbovsky (Pseudonym). „Wir bekommen alle Arten von Missionen und arbeiten mit allen Arten von Einheiten. Einen feindlichen Soldaten auszuschalten hat so gut wie nie Priorität. Es ist eher eine Gelegenheit, die man nutzt, wenn sie sich bietet.“

Jetzt hatte sie sich womöglich geboten gegenüber Wladimir Putins Invasionsarmee: Die Ukrainska Pravda hat einen Bericht veröffentlicht von ukrainischen Spezialeinheiten, wonach ihre Scharfschützen an der Awdijiwka-Front zwölf russische Besatzer getötet und drei verletzt haben sollen. Die nächste Angriffswelle Russlands rollt. Seit Tagen schon ist die Frage aufgeflammt, wie der Ukraine-Krieg weiter verläuft, wenn Awdiijwka fällt – in wessen Hände auch immer. Die ukrainische Kleinstadt mit ihren rund 30.000 Einwohnern liegt in Sichtweite von Donezk, also nah an den von Russland ab 2014 besetzten Gebieten in der Ostukraine. Die Stadt ist seit rund zehn Jahren Frontstadt und steht damit ständig unter Feuer beider Parteien.

Strategisch oder psychologisch scheint die Stadt für beide Seiten wichtig zu sein, zumindest bindet sie russische Kräfte, die an anderen Frontabschnitten fehlen. Mehrere westliche Beobachter meinen aber zunehmende Ermüdungserscheinungen unter den ukrainischen Verteidigern zu erkennen, wie beispielsweise die tagesschau schreibt: Die ukrainischen Truppen seien in einer schwierigen Lage. Russland habe mehr Drohnen, mehr Artilleriegeschosse, mehr Männer und gehe an vielen Stellen der Front zum Angriff über. In den vergangenen Tagen ist ein massiver Aufmarsch an Schützenpanzern beobachtet worden – das bedeutet eine deutliche Verstärkung an motorisierten Schützen. Zu vermuten ist daher auch ein folgender verstärkter Aufmarsch von Kampfpanzern. Die aktuelle Angriffswelle rollt im Prinzip seit Oktober – langsam, aber scheinbar auch nicht enden wollend.

Putins Ziel: die zur Festung ausgebaute Kokerei

Der britische Geheimdienst spricht aktuell davon, eine Zangenbewegung der russischen Invasionsarmee erkannt zu haben. Die Briten schätzen, dass die Russen in den vergangenen Wochen zwei Kilometer auf Awdiijwka vorgerückt seien. Der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala spricht der Kleinstadt nahe Donezk keine strategische Bedeutung zu – anders als andere Militärexperten. Im Fokus stehen könnte die Kokerei Awdiijwka (AKHZ) – eine der größten Produzenten von Koks in Europa. Zur Blütezeit sollen dort bis zu 4.000 Menschen gearbeitet haben, die Kokerei war ein wichtiger Zulieferer der ukrainischen Stahlindustrie, lieferte Koks zum Beispiel an das Azov-Stahlwerk in Mariopol, an ArcelorMittal Krywyj Rih oder ans Eisen- und Stahlwerk Jenakijewe.

Jetzt, so behaupten verschiedene Quellen, sei der Industriekoloss das letzte Bollwerk der ukrainischen Streitkräfte, das noch den Fall der Festung Awdijiwka verhindern kann. Fällt die AKHZ, fällt Awdijiwka.. Daneben soll eine befestigte Straße für die Versorgung mit Nachschub unabdingbar sein. Für beide Parteien.

Tatsächlich könnten den Ausgang dieser Schlacht die Scharfschützen entscheidend beeinflussen. Aufgrund der strikt hierarchischen Führungsstruktur der russischen Armee, würde der gezielte Abschuss der Offiziere Sand ins Getriebe der russischen Bemühungen streuen. „Wenn man sich gerade auf einen Angriff vorbereitet und plötzlich ist der Kommandeur weg, gerät die ganze Einheit in Aufruhr“, so der US-Militärexperte und pensionierte Armeegeneral Robert Scales im Wall Street Journal. „Kleine Einheiten geraten komplett durcheinander, wenn ihr Anführer getötet wird.“ Lohnenswert sei auch die Jagd auf erfahrene Artillerieschützen, deren Fähigkeiten schwer zu ersetzen seien, so Scales.

Putins Gegner: Zivilisten, die sich ihm schwer bewaffnet entgegenstellen

Die Kiew Post schreibt: „Als die Russen Ende Februar 2022 in die Ukraine einmarschierten, griff jeder Mann, so er ein erfahrener Schütze war, aber immer noch ein Zivilist, zu seinem Gewehr und machte sich wie Tausende andere Kiewer auf den Weg an die Front nördlich der Hauptstadt, um gegen die russische Armee zu kämpfen. Als die Russen Anfang April zurückfielen, war die Nachfrage nach geeigneten Scharfschützen in den Streitkräften der Ukraine groß.“ Zu Beginn der russischen Invasion waren die drei von der Kiew Post befragten Männer – allesamt Bewohner der Kiewer Gegend – Zivilisten. Harbovsky war Autoteile-Händler, der zweite besaß ein Geschäft, in dem Schusswaffen und Campingausrüstung verkauft wurden, der dritte war Inhaber eines Einzelhandelsgeschäftes.

Den hoch trainierten Scharfschützen der Nato haben alle Scharfschützen der Ukraine eines voraus, sagt Harbovsky. „Seit nunmehr zwei Jahren hat kein militärischer Scharfschütze, der in einer nationalen NATO-Armee oder anderswo dient, auch nur annähernd die tödlichen, blutigen und schmutzigen taktischen Lektionen erlebt, die professionellen Schützen auf den Schlachtfeldern der Ukraine beigebracht werden.“ Der Ukrainer hatte genauso wie seine beiden interviewten Mitkämpfer aufgrund seines guten Einkommens bereits vor der Mobilmachung jahrelange Erfahrung als Sportschütze. In Awdiijwka sollen die erfolgreichen Scharfschützen rund 1.000 Meter von ihren Zielen entfernt gewesen sein. Eine normale Entfernung für diese Spezialisten.

Auf diese Distanz muss sich ein Schütze nicht nur mit Grundlagen wie Mündungsgeschwindigkeit, Wind und Projektilgewicht auseinandersetzen; dazu Langstreckenfaktoren wie Eigenrotation der Kugel im Sinn behalten, dazu Kräfte, die von außen auf die Rotation einwirken, ballistische Koeffizienten, atmosphärische Dichte, Winkel zum Ziel und sogar die Rotation der Erde. Im Prinzip haben die Freizeitschützen jahrelang in ihre militärische Verwendbarkeit investiert, ohne das im Mindesten geahnt zu haben.

Putins Risiko: Fällt Awdiijwka, ist der Weg nach Donezk offen

Die russischen Truppen könnten bis zu einem Drittel der rund um Awdiijwka eingesetzten Kräfte bereits verloren haben, sagt der ehemalige Nato-General Erhard Bühler im MDR-Podcast „Was tun, Herr General“. Laut Bühler handele sich bei den bisherigen massiven Angriffen eher um Entlastungsangriffe für die Truppen an der Südfront, um die Ukrainer im Osten zu binden. Die taz sieht in den Kämpfen das Ringen um ein Prestige-Objekt ähnlich wie der Kampf um die Krim: Um Awdiijwka herum stoppte die Ukraine 2014 die Versuche Russlands und der russisch gesteuerten Donbass-Separatisten, das gesamte Umland von Donezk unter ihre Kontrolle zu bringen. „Awdijiwka blieb danach ein ukrainischer Stachel im Fleisch der russischen Besatzung des Donbass. Sollte Russland nun um Awdijiwka eine empfindliche Niederlage erleiden, stünde der Ukraine sogar der Weg in die nur 15 Kilometer entferne Millionenstadt Donezk offen.“

Eben diesen Weg sollen auch die Scharfschützen versperren helfen. Ihre Aufgabe besteht in Zweierlei, wie Hauptfeldwebel Sahin K. (Name zum Schutz der Persönlichkeit abgekürzt) im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt erläutert. Sahin K. ist Scharfschützen-Truppführer einer Sicherungsstaffel des Taktischen Luftwaffengeschwaders 33. Er schützt einen Fliegerhorst in Rheinland-Pfalz. Ihm zufolge sollen Scharfschützen sowohl während eines Angriffs als auch während eines Verzögerungsgefechts den Gegnern Angst machen und die eigenen Kameraden durch ihre Anwesenheit beruhigen. Die Interviewpartner der Kiew Post sagten gleichlautend: „Der Schlüssel zu unserer Arbeit sind Vorbereitung und Geduld. Um unseren Job zu machen, müssen wir am Leben bleiben, und um das in diesem Krieg zu schaffen, müssen wir verstehen lernen, wie groß die Gefahr da draußen ist.“

Verschiedene Medien ziehen für die aktuellen Vorgänge um Awdiijwka immer wieder den Vergleich mit Bachmut heran. Seit längerer Zeit soll in der Stadt im Osten des Landes eine Einheit von 20 Scharfschützen operieren – bekannt unter dem Decknamen „Geister von Bachmut“. Nach eigenen Angaben haben sie zwischen Januar und Juli 524 russische Besatzer getötet. Überprüfen lässt sich diese Zahl allerdings nicht. Einer der Schützen gab sich im Juli gegenüber der BBC selbstbewusst: „Vor der Artillerie kann man sich verstecken, aber nicht vor Scharfschützen.“

Quelle : FR

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